Albert Camus’ Roman Der Fremde (1942) ist bis heute von ungebrochener Aktualität. In diesem Herbst bringt François Ozon eine neue Verfilmung in die französischen Kinos und erzählt die Geschichte erneut. Der Fremde hat für viele Leser eine lebensverändernde Wirkung entfaltet, da er nicht nur als literarisches Werk, sondern auch als philosophische Grundlage des Existenzialismus gelesen werden kann. Der Protagonist verkörpert, wie man ohne Glauben, ohne Gott, das Absurde annehmen und ertragen kann – und dennoch einen Weg findet, im Leben glücklich zu sein. Der Roman ist damit eine Art Anleitung zu einem atheistischen Dasein, die nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat.
Der Fremde ist ein junger Mann, der in den 30er Jahren im von Frankreich besetzten Algerien lebt. Er besucht die Beerdigung seiner Mutter ohne das genaue Datum ihres Todes zu kennen. Er scheint generell wenig Interesse an seiner Außenwelt zu haben und arbeitet als Büroangestellter. Fremd verhält er sich gegenüber der Welt und den Schicksalen der anderen. Mit introvertierter Distanz steht er den Geschehnissen gegenüber.
Am Tag nach der Beerdigung seiner Mutter lernt er seine Freundin Marie kennen, die auch eine Kollegin ist und beginnt direkt eine intime Beziehung. Sie will ihn heiraten und fragt ihn, ob er zustimme, worauf er nur entgegnet, dass es ihm egal sei, er sie nicht liebe aber sie trotzdem heiraten würde, da das alles völlig belanglos sei.
Als er eines Abends mit seinem Freund, einem Zuhälter, am Strand ist, erschießt er in Selbstverteidigung oder Zufall einen Araber: „Mir wurde klar, dass ich das Gleichgewicht des Tages zerstört hatte, die außergewöhnliche Stille eines Strandes, an dem ich glücklich gewesen war.“ Er schießt noch viermal auf den leblosen Körper und wird schließlich verhaftet.
Ein Buch, das die Postmoderne vordenkt
Der Fremde ist ein nietzscheanischer Übermensch, der den Gottestod bejaht und keine Hoffnung kennt. Er glaubt nicht mehr an eine bessere Zeit, an die Trias „höher, schneller, weiter“, die Fortschrittsverheißung der Moderne. Gleichzeitig ist aber auch kein vormoderner Traditionalist, der sich religiösen Ordnungen unterwirft. Der Fremde ist im Grunde postmodern und verkörpert das, was der Philosoph Jean-François Lyotard „das Ende der großen Erzählungen“ nennt. Da er stumpf und gefühlskalt wirkt, wird ihm unterstellt er habe die Seele eines Mörders und wird wegen der Tötung des Arabers zum Tode verurteilt. Als er im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartet, findet er Trost in der „zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt“.
Man kann in der Welt des „Fremden“ Sinnfragen noch stellen, aber sie scheinen so absurd wie die Fragen welche Farbe ein Kreis habe oder wie eine Farbe rieche. Sie sind zur Nutzlosigkeit verdammt. Als ein Priester ihn in seiner Todeszelle besucht, bäumt sich der Fremde ein einziges Mal auf und macht dem Geistlichen klar, wie leer er dessen religiöse Bekehrungsversuche finde:
„[Der Priester] schiene so gewiss zu sein, nicht wahr? Dabei wäre keine seiner Gewissheiten das Haar einer Frau wert.“
Was sind die wichtigen Dinge für den Fremden? – Frauen und das Annehmen des Absurden. Er sehnt sich in der Zelle nach Marie. Aber er kann damit leben, dass seine Sehnsüchte und Wünsche unerfüllt bleiben.
Freiheit heißt trotzdem glücklich sein
Die Botschaft des Romans ist Ja sagen zur „Gleichgültigkeit der Welt“, zum Absurden und Sinnlosen. Es geht darum, ein Übermensch zu werden, der das alles aushält und dennoch glücklich ist. „Als ich spürte, wie ähnlich [meine Mutter] mir war, wie brüderlich letzten Endes, habe ich gefühlt, dass ich glücklich gewesen war und dass ich es noch war.“ So endet auch der Fremde im typischen Camusstil: Glück finden heißt das Absurde zu sehen und in einer Haltung der Freiheit darin zu leben. Das wird Camus in seinem Werk „Der Mythos des Sisyphos“ zum Prinzip machen.
Christusbezüge im Fremden
Aber wie der Glaubende dem Zweifel nie ganz entrinnen kann, so kann Camus dem Glauben nicht ganz entrinnen. Denn das Ende des „Fremden“ erinnert an die Kreuzigung Christi. Die einleitenden Worte des letzten Satzes: „Damit sich alles erfüllte“, im französischen Original „pour que tout soit consommé“ (damit alles vollbracht ist), sind deutlich angelehnt an die letzten Worte Jesu im Johannesevangelium: „Es ist vollbracht!“
Während sich der Fremde wünscht, am Tag seiner Hinrichtung von einer Menge voller Hassschreie empfangen zu werden, um sich weniger allein zu fühlen und so sein Ende zu finden, beginnt mit dem Tod Christi in der Bibel eine neue Epoche der Barmherzigkeit. Camus glaubt daran nicht mehr. In einem Vorwort zu einer amerikanischen Universitätsausgabe seines Romans schreibt er, er habe in der Figur des Fremden den einzigen Christus darstellen wollen, den wir verdient hätten.
Doch gerade darin zeigt sich die Größe Gottes: Wir erhalten mit dem echten Christus nicht das, was wir verdienen, sondern das Gegenteil – Liebe und Gnade. Sie sind die entscheidende Wirklichkeit, die alles verändert. Eine größere Geschichte gibt es nicht. Kann kam als aufgeklärter, abgeklärter Mensch des 21. Jahrhunderts daran noch glauben? Die 2000-jährige Geschichte des Christentums spricht für ihre Wahrheit, nicht für den absurden Existenzialismus. Wenn letztlich alles absurd ist, bleibt nur Hoffnungslosigkeit und Gleichgültigkeit. Es ist die Weltanschauung der Resignation und Selbstaufgabe, die Krankheit, die Europa heute befällt. Nach dem Hedonismus kommt die Depression. Gott hingegen, der gegen alle Wahrscheinlichkeiten und Berechnungen der Welt Wunder wirkt und Gnade schenkt, ist es, der wirklich begeistert und Leben verwandelt.
Man denke an Paulus, der vom Pferd stürzt, an Augustinus, der in seiner Verzweiflung Gnade findet, an Lourdes, Fatima, Maximilian Kolbe, Pater Pio, unheilbar Kranke, die auch heute noch auf unerklärliche Weise nach einem Fürbittgebet gesund werden oder an ausweglose Situationen, die plötzlich eine Wendung zum Guten nehmen.
Mit Johannes vom Kreuz gibt es sogar so etwas wie einen „existenzialistischen Heiligen“: einen, der die Dunkelheiten und Widersprüche des Lebens in Gott auflöst.
OHNE HALT –
UND DOCH GEHALTEN
Ohne Halt und doch gehalten,
ohne Licht im Dunkeln lebend,
werd‘ ich gänzlich mich verzehrer
Losgelöst ist meine Seele.
Nichts Geschaff´nes hält sie fest.
Über sich hinausgehoben
schmeckt sie Leben wie noch nie.
Gott alleine gibt ihr Halt.
Drum das Wort, das ich euch sage:
Das, was ich am meisten schätze,
ist, daß ich mich jetzt schon sehe
ohne Halt und doch gehalten.
Finsternis läßt mich erdulden
dieses todgeweihte Leben.
Dennoch ist mein Schmerz nicht groß
weil, auch wenn das Licht mir fehlt
ich ein himmlisch Leben lebe.
Solch ein Leben schenkt die Liebe.
Und je blinder diese Liebe,
desto mehr geb‘ ich mich hin,
ohne Licht im Dunkeln lebend.
Alles dies bewirkt die Liebe.
Seit ich endlich sie erkannte,
macht das Gute und das Schlechte
sie zu einem süßen Duft,
weil sie mich in sich verwandelt.
Schnell in ihrer duft’gen Flamme,
die ich innerlich verspüre,
ohne daß was übrigbleibt,
werd‘ ich gänzlich mich verzehren.
Johannes vom Kreuz